Beide Bezirke
Südnassau Rheinhessen

Hier spielt die Musik

Die Bläserarbeit boomt

Neue Serie „Kirchenmusik heute” — Teil 1

Von einer Bühne am Schillerplatz dröhnen Schunkellieder, Gardeuniformen und Narrenkappen bevölkern die Fußgängerzone – kein Zweifel: am 11. 11. tanzt Mainz erstmals wieder nach der Fastnachts-Pfeife. Es ist nass und ungemütlich an diesem Samstag. Vor dem Staatstheater, gegenüber dem Gutenberg-Denkmal, haben die „Bembeljeescher”, eine Guggenmusik-Kapelle aus Rüsselsheim, gerade lautstark eingeheizt. Doch jetzt tauchen andere Musiker auf: Rund 120 Blechbläser, Männer und Frauen, alte und junge, ihre Instrumente im Arm und auffällig mit weißen Regenanzügen bekleidet, stellen sich vor dem Theaterportal auf. Pünktlich um 14 Uhr tritt Landesposaunenwart Johannes Kunkel ans Pult und hebt den Taktstock. Es beginnt getragen. Man erkennt bekannte Choralmelodien. Dem behäbigen großen Chor antwortet ein Bläserensemble des Staatsorchesters vom Balkon mit filigranen Klängen. Mancher, der zufällig vorbei kommt, schüttelt den Kopf über Musik, die ihm an diesem Nachmittag reichlich unzeitig erscheint. Doch der Sound ändert sich. Angefeuert durch die vier Percussionisten der Gruppe „Drumlet” und die „Jazzpolizei” kommen Posaunen, Trompeten und Hörner mehr und mehr ins Swingen. Ein bunter Stilmix entsteht, und spätestens zur „Mainzer Windmusik”, die aus allen vier Ecken über den Platz schallt, haben die kirchlichen Bläser alle erreichbaren Ohren staunend auf ihrer Seite.

Das Risiko, den Bezirksposaunentag für Rheinhessen und Südnassau ausgerechnet zu Fastnachtsbeginn in Mainz anzusetzen, hat sich für Johannes Kunkel gelohnt. „Ich bin sehr zufrieden”, sagt er und strahlt. Mit ihrem Auftritt am Gutenbergplatz haben er und seine Musiker Aufmerksamkeit erregt. Der Rest des Nachmittags ist der Begegnung und Fortbildung in drei parallel laufenden Workshops gewidmet, ehe es mit einem Konzert in der Christuskirche wieder öffentlich wird.

Die musikalischen Gruppen quantifiziert Landeskirchenmusikdirektor Michael Graf Münster als neben der Frauenhilfe größte Organisation von Laien innerhalb der Kirche. Daran haben die Posaunenchöre entscheidenden Anteil. Rund 4500 Bläserinnen und Bläser musizieren derzeit in über 300 Chören des Posaunenwerks der EKHN. Dabei ist die regionale Verteilung recht unterschiedlich, weiß Kunkel. In mehrheitlich katholischen Gegenden wie dem Rheingau oder rund um Limburg gebe es etwa weit weniger Ensembles als in bestimmten Gebieten Oberhessens oder im Raum Alzey. „Und in den Städten haben es Posaunenchöre generell schwerer als auf dem Land.”

Die Geschichte der kirchlichen Bläserarbeit beginnt auch in Hessen und Nassau im Zuge der pietistischen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der älteste Posaunenchor auf dem Gebiet der EKHN besteht in Klein-Linden. Er feierte vor drei Jahren seinen 150. Geburtstag. In den folgenden Jahrzehnten werden immer mehr Gruppen gegründet und häufig von den Ortspfarrern geleitet. Um die Jahrhundertwende ist die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass sich die Bläser übergemeindlich organisieren. Im Januar 1906 wird der Oberhessische Verband kirchlicher Posaunenchöre in Langgöns gegründet. Starkenburg und Rheinhessen, die anderen Provinzen des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, folgen diesem Beispiel. 1928 schließen sich die Organisationen zu einem Gesamtverband evangelisch-kirchlicher Posaunenchöre in Hessen zusammen und 1939 treffen sich die Bläser in Darmstadt zum ersten Landesposaunentag. Nach dem Krieg knüpft das Posaunenwerk der EKHN an diese Form der Selbstorganisation an. Es gibt sechs Bezirke, die sich an den ursprünglichen Propsteigrenzen orientieren: der Bezirk Frankfurt umfasst die vier Stadtdekanate und das Dekanat Bad Vilbel. Die Dekanate Rüsselsheim, Groß-Gerau, Dreieich, Offenbach und Rodgau gehören mit zum Bezirk Starkenburg. Jeder Bezirk wählt eigene Vorstände, deren Vorsitzende zusammen mit dem Landeskirchenmusikdirektor, dem Kirchenmusik-Referenten der Kirchenverwaltung und den Landesposaunenwarten den Landesposaunenrat bilden.

1953 kam der erste Landesposaunenwart ins Amt, heute sind es deren drei. Sie schlagen eine Brücke zwischen Landeskirche &ndash: sie sind beim Zentrum Verkündigung angestellt – und dem selbständigen Posaunenwerk. Johannes Kunkel betreut die Bezirke Südnassau und Rheinhessen. Sein Kollege Frank Vogel ist für Starkenburg und Frankfurt, Albert Wanner für Nordnassau und Oberhessen zuständig. Dort sind sie die professionellen Ansprechpartner – im Grunde die einzigen ihrer Art. Chöre und Organisten haben immer einen hauptberuflichen Kirchenmusiker in ihrer Nähe, an den sie sich wenden können. Die Bläser nicht. Deshalb begreift Kunkel den regelmäßigen und engen Kontakt mit ihnen als zentralen Teil seiner Arbeit: „Die 90 bis 100 Posaunenchöre meiner Region kenne ich mittlerweile ziemlich gut.”

Die Bläserarbeit, nicht allein in Hessen und Nassau, ist ein System, in dem viele Rädchen ineinander greifen und das in einem selbst fürs kirchliche Milieu außergewöhnlichen Grad vom Ehrenamt getragen und geprägt ist. Das gilt auch für die Ausbildung der Jungbläser. „Eins-Zwo-Eins-Zwo-Zwo-Eins-Drei”: Für sieben Jungbläser im Mainzer Wolfgang-Capito-Haus werden Töne zu Zahlen. Die bezeichnen entsprechende Positionen der Ventile oder Züge, bei Trompete oder Posaune. Die Kinder haben erst vor kurzem mit dem Blechblasen begonnen. Als Teilnehmer des Bezirksposaunentags versuchen sie sich gerade an der Melodie des „Bruder Jakob”. Sabine Heinze führt sie über die Klippen der Tonbildung. Sie bläst auf ihrer Trompete einzelne Töne vor – die Kinder machen es ihr nach und erhalten individuelle Korrekturen: „Wenn der Ton zu hoch ist, sind deine Lippen schon zu fest.” Die 36-Jährige stammt aus der norddeutschen Grafschaft Bentheim und hat dort selbst das Blasen im Posaunenchor erlernt. In Neu-Anspach, wo sie seit 1995 lebt, gibt sie ihr praktisches Wissen über Atmung und Ansatz an den dortigen Bläsernachwuchs weiter. „Ich hab Spaß daran”, sagt sie. In diesem Jahr wird sie die C-Prüfung ablegen.

Diese Möglichkeit ist in der Bläserarbeit der EKHN relativ neu und wird noch nicht so häufig genutzt. Eine regelmäßige Sache ist dagegen die D-Prüfung für Bläserchorleiter. „Da bilden wir pro Jahr zwischen acht und 16 Leute aus”, sagt Kunkel. Eine Zahl, die über den tatsächlichen Bedarf hinausgehe. Selten würden die Teilnehmenden von ihren Heimatensembles geschickt. Die meisten kämen aus eigenem Antrieb.

Das Prinzip „Laien bilden Laien aus”, wie es in der kirchlichen Bläserarbeit angewendet wird, vergleicht Kunkel mit der Praxis bei den Musikvereinen – „ohne dass wir deren Leistungssystem übernehmen”. Dabei sind Fortbildungskurse von entscheidender Bedeutung, und die bietet das Posaunenwerk in großer inhaltlicher und regionaler Breite das ganze Jahr über an. Das Spektrum reicht von eher geselligen Bläserfreizeiten über Kurse für Anfänger und deren Ausbilder bis hin zu Seminaren über Blastechnik oder das Arrangieren. Die Kurse seien „in der Regel sehr gut besucht”, weiß Kunkel. Zuschüsse zu den Tagungskosten, die vom Posaunenwerk gezahlt werden, bilden zusätzliche Anreize. „Und die, die teilnehmen, werden wieder zu Multiplikatoren – so funktioniert das System.”

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die von den drei Posaunenwarten geleiteten Auswahl-Ensembles. Johannes Kunkel pflegt mit dem Bläserkreis in Hessen und Nassau (BiHuN) seit Jahren jazzig-swingende Töne. In jüngster Zeit ist ein zweites Standbein dazugekommen: Bläser und Orgel – in Zusammenarbeit mit dem neuen Orgelsachverständigen der Landeskirche, Thomas Wilhelm. Dabei setzt Kunkel auf die Vorbildfunktion: „Die Leute sollen merken: das sind Laien wie wir, die halt bloß mehr üben.” Mit ihren Programmen touren die Auswahl-Ensembles durch die Gemeinden und lassen sich bei Großveranstaltungen wie dem Landeskirchenmusiktag oder dem Bezirksposaunentag hören. Solche herausragenden Ereignisse, die einer großen Zahl von Bläsern Auftritte vor großem Publikum bescheren, sind wichtig für das Selbstwertgefühl und charakteristisch für die kirchliche Bläserarbeit. In diesem Sinn ist der Hessentag wohl der wichtigste Termin im Jahr 2007. Erstmals sollen nicht nur die Bläser der Region, sondern alle Posaunenchöre der EKHN dorthin eingeladen werden – zur wahrhaft großen „Butzbacher Windmusik” sozusagen.

Weitere Informationen zur Posaunenarbeit unter: www.posaunenwerk-ekhn.de

Jörg Eichler
Mit freundlicher Genehmigung des Autors nach einem Artikel aus der
Evangelischen Sonntagszeitung vom 7. Januar 2007